Abschied von der Jammerkultur
Was ich vom Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2019 in Berlin mitnehme – Ein persönlicher Rückblick von Ludger Dabrock
Der diesjährige Hauptstadtkongress (HSK) liegt jetzt hinter uns. Zeit zu reflektieren. Was waren für mich die TOP-Themen? Was gab es Neues? Was war nur neuer Wein in alten Schläuchen?
Zunächst einmal: Keine Jammerkultur. Stattdessen Aufbruchsstimmung und das Nachdenken darüber, was geht und was nicht geht. Das ist aus meiner Sicht eine wesentliche Nachricht. Seit ich in den 80ger Jahren im Gesundheitswesen “unterwegs” bin gehört “Jammern” als “Tonspur” zum festen Kongressritual vieler Veranstaltungen. Natürlich sind die Rahmenbedingungen für Leistungserbringer – insbesondere Kliniken – in Deutschland in dem von Landes- und Bundespolitik sowie von Krankenkassen völlig überregulierten Markt schlecht. Aber sich meistens an dem abzuarbeiten, was nicht geht, hat noch keinen Bereich nach vorne gebracht.
Zurück zum HSK: Ja, natürlich eröffnete der Gesundheitsminister – wie in jedem Jahr – den Kongress. Natürlich zeigte sich Jens Spahn von der agilen Seite. Von Pflege über Digitalisierung, Überwindung von Sektorengrenzen bis zur Krankenhausplanung, Spahn streifte jedes aktuelle gesundheitspolitische Thema ohne für Alles politische Lösungen bieten zu können. Die Botschaft: seht, wir haben begriffen, wir kümmern uns um die Anliegen der Versicherten und der Branche. Das dabei Vieles offen und Manches ungesagt oder unbedacht blieb, räumte Spahn vor den Brancheninsidern selbst ein und nahm damit möglicher Kritik selbst den Wind aus den Segeln.
Digitalisierung verändert Alles – auch im Bereich der Medizin
Hauptthema in diesem Jahr – wie konnte es anders sein – Digitalisierung. Mein Eindruck in Bezug auf das Gesundheitswesen. Während wir bisher eher über Technisierung nachgedacht haben, geht es jetzt um digitale Vernetzung.. Alles, was möglich ist, wird digital (vernetzt) werden. Ob Künstliche Intelligenz – KI – in der Radiologie und in Laborstraßen, eine immer bessere Bildgebung mit deutlich verbesserten diagnostischen Möglichkeiten in den Bereichen MRT, Cardio-CT, digitales Röntgen oder in der Sonographie versprechen hohen Patientennutzen. Die Telemedizin eröffnet neue Möglichkeiten, insbesondere und gerade auch in ärztlich unterversorgten ländlichen Regionen.
Die Elektronische Patientenakte (EPA) auf dem Handy der Versicherten kommt; die Erfahrung: Patienten teilen Daten mit Ihrem Arzt, wenn Sie einen Nutzen darin sehen. Über Allem schwebt noch die Frage, welche Daten in die EPA kommen und wer darüber entscheidet, welche Daten wer wann mit wem denn teilen kann. Letztendlich wird es darauf hinauslaufen, dass Patienten das selbst für sich souverän entscheiden; eine Vorstellung, mit der sich einige Kostenträger und Anbieter mit Hinweis auf den Datenschutz noch schwer tun. Im Bereich KI kommen zahlreiche Anbieter auf den Markt – auch die Großen wie Apple, Google, Amazon und Alibaba haben den Gesundheitsmarkt längst für sich entdeckt und investieren strategisch. Ob sie um Deutschland dann einen großen Bogen machen werden ist da wohl eher eine rhetorische Frage.
Und da sind da die spannenden Themen der medizinischen Forschung rund um hochspezialisierte individualisierte Therapiemöglichkeiten für Schwerkranke und insbesondere auch für onkologische Patienten. Ob die weit fortgeschrittenen Forschungen rund um die Genschere CRISPR-Cas 9 oder der Einsatz von Sensoren und Nanorobitik. Die Medizin scheint an einem Wendepunkt angekommen zu sein, die Digitalisierung führt mit exponentiell wachsendem Wissen verschiedene bisher unabhängige Forschungsbereichen zusammen – wenn wir Glück haben zum Nutzen von Patienten.
Die Trennung zwischen dem ambulanten und stationären Bereich bleibt künstlich
Immer wieder ein Thema in zahlreichen Foren waren die Sektorengrenzen zwischen der ambulanten und stationären Versorgung sowie dem Reha- und Pflegebereich. Historisch gewachsen, stellt sich die Frage, inwieweit das auch vor dem Hintergrund immer steigender Aufwendungen auch in Zukunft durchzuhalten ist. Irgendwie künstlich und aus der Zeit gefallen wirken die Sektorengrenzen, und wenn wir das deutsche Gesundheitssystem heute neu erfinden würden, käme wohl niemand auf die Idee der strikten Trennung zwischen dem Ambulanten und dem Stationären Sektor, insbesondere im fachärztlichen Bereich. Die politische Einsicht, dass das System teuer – Systembrüche kosten Geld -, für Patienten häufig (nicht nur wegen der Wartezeit auf Termine beim Facharzt) unbefriedigend und so nicht zukunftsfest ist, scheint da, aber der erklärte Wille zur grundlegenden Änderung auch vor dem Hintergrund des dann zwangsläufigen Eingriffs in die Selbstverwaltung noch nicht vorhanden.
Beispiel Krankenhäuser: Dass wir in Deutschland mit rund 1800 Krankenhäuser insgesamt zu viele, davon zu viele kleine und zu wenig spezialisierte Häuser haben, dieser These werden Viele in der Gesundheitsbranche zustimmen. Wenn es dann konkret um Krankenhausbedarfsplanung und um Schließungen geht, werden Politiker, insbesondere im dann betroffenen regionalen Umfeld, sehr schmallippig. Kein Lokalpolitiker möchte für die Schließung des Krankenhauses vor Ort mit verantwortlich gemacht werden – und sei es noch so klein und unwirtschaftlich. Ob wir in Deutschland die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel für Investition und Betrieb auf 900 oder 1300 Krankenhäuser sinnvoller – weil für den Patienten leistungsfähiger und attraktiver für Mitarbeiter – verteilen sollten, bleibt eine Frage der strukturellen Ausgestaltung, die politisch beantwortet werden muss. Aber dass wir im Krankenhaussektor eine deutliche Konzentration mit höherer Spezialisierung, mehr Zentrenbildung und mehr Patientennutzen benötigen, wird nur von Wenigen bestritten.
Bereinigung von Strukturen durch die Hintertür?
Und die Politik: scheut – wie bereits gesagt – die Entscheidungen. Stattdessen wird versucht, über (sinnvolle) Mindestmengen, Strukturvorgaben Personaluntergrenzen und Personalbemessung eine Strukturbereinigung von Seiten des Marktes zu erzwingen. Motto: wenn Leistungen nicht mehr erbracht werden dürfen, weil ärztliches oder pflegerisches Personal fehlt, zu wenig Patienten für das Angebot vorhanden sind, werden Träger die Unwirtschaftlichkeit von Bereichen oder ganzen Krankenhäusern erkennen und diese selbst vom Markt nehmen. Kapazitätsbereinigung durch die Hintertür.
Dass die wirtschaftliche Lage für viele Krankenhäuser in Deutschland nicht gut ist, zeigt auch der in Berlin vorgestellte Krankenhaus Rating Report 2019 vom RWI aus Essen. Jedes 4. Haus ist aus wirtschaftlicher Sicht mittelfristig insolvenzgefährdet, jedes 2. kommunale Haus produziert „rote Zahlen“. Die Analysten vom RWI verzeichnen für die deutsche Krankenhauslandschaft leicht sinkende Fallzahlen, was für viele Krankenhäuser durchaus erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben dürfte. Denn damit entfällt die Möglichkeit, über steigende Fallzahlen mehr Fälle „zu produzieren“ und höhere Erlöse zu generieren. Die Ökonomen des RWI prognostizieren, dass sich der Trend der Ambulantisierung von Leistungen fortsetzen wird, was den wirtschaftlichen Druck auf die Kliniken erhöhen dürfte. Das verschärft die Schere zwischen tatsächlichem Aufwand, notwendigen Investitionen und generierten Erlösen. Die Investitionen der Bundesländer in die Krankenhaus-Infrastruktur sind seit Jahren völlig unzureichend und geschieht im föderalen Deutschland nach Sicht, politischer Gewichtung und Kassenlage.
Dramatischer Fachkräftemangel auch im Gesundheitswesen
Es ist also nach wie vor viel Druck im System. Ein der “zentralen Baustellen” ist die Frage, wo in den kommenden Jahren das notwendige Personal für die Behandlung der Patienten herkommt. Wir bilden zu wenige Ärzte aus – noch gravierender ist und bleibt der Fachkräftemangel im Bereich der Pflege. Während viele Unikliniken die Frage der für die Behandlung von Patienten notwendigen Ärzten – zumindest im eigenen Bereich – entspannt sehen, da sie diese selbst ausbilden und damit auch für die weitere Beschäftigung attraktiv sind, sieht das im Bereich der Pflege ganz anders aus. Fast alle Anbieter bauen ihre Ausbildungskapazitäten massiv aus, aber auch das wird in den meisten Kliniken und schon gar nicht im Reha-Bereich oder im Bereich der Altenpflege nicht dazu reichen, die altersbedingt ausscheidenden und zu anderen Trägern “normal” wechselnden Pflegekräfte in ausreichender Zahl zu ersetzen. Viele Träger haben sich auch wieder von der Anwerbung von Pflegekräften im nahen und fernen Ausland verabschiedet: zu aufwändig, zu teuer, zu bürokratisch und in qualitativer Hinsicht fraglich waren als Gründe für ein Zurückfahren dieser Bemühungen in Berlin zu hören. Oder wie es der Vorstand einer norddeutschen Uniklinik formulierte: “Wir haben jahrelang die Pflege schlecht geredet und schlecht behandelt. Jetzt, wo das Image am Boden liegt wundern wir uns, dass junge Menschen diesen Beruf nicht attraktiv finden”, so der Krankenhausmanager.
Mit großer Skepsis wird von den Experten die Entscheidung des Bundesgesundheitsministers Spahn beurteilt, die Personalkosten im Bereich der Pflege für die Kliniken aus den Bereich der Fallpauschalen herauszulösen und den Kliniken 1:1 zu ersetzen. Dieser Rückschritt in das Selbstkostendeckungsprinzip wird – so das einhellige Urteil – wirtschaftlich nicht durchhaltbar sein und stellt an den falschen Schrauben. Und wird den Pflegeberuf auch nicht attraktiver machen.
Zahl der Schnittstellen nimmt immer weiter zu
Was deutlich wird, es gibt immer mehr Schnittstellen im Gesundheitswesen und diese werden in Zukunft massiv zunehmen. Das erfordert immer mehr und immer intensivere Zusammenarbeit von den Beteiligten über Bereichs- und Sektorengrenzen hinweg. Daraus ergeben sich ganz neue und ganz andere Anforderungen an Führung und Zusammenarbeit. Dafür sind Führungskräfte im Gesundheitswesen bisher noch nicht ausreichend vorbereitet. An vielen Orten und in vielen Bereichen scheint noch das Prinzip zu gelten, dass die beste Fachkraft Führungskraft wird. Dass das Management von Prozessen oder Schnittstellen und die Führung von Mitarbeitern in Zeiten der großen Veränderungen ein ganz anderer Beruf ist als fachlich hervorragende ärztliche, therapeutische oder pflegerische Arbeit, scheint noch nicht überall angekommen zu sein.
Fazit: Auf dem Hauptstadtkongress war an vielen Stellen und Orten Aufbruchsstimmung spürbar. Große Skepsis herrscht gegenüber den auch für gut informierte Experten kaum noch nachzuvollziehenden zahlreichen Initiativen des Bundesgesundheitsministers (Stichwort: Abkehr von den Fallpauschalen). Die Digitalisierung der Medizin nimmt rasant Fahrt auf. Auf die notwendigen Reformen für die stationäre Versorgung und insbesondere auch für die sektorübergreifende Versorgung gibt es fachlich, strukturell und ökonomisch noch keine Antworten. Dringender Handlungsbedarf besteht auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel – nicht nur im Bereich der Pflege.